14

Am nächsten Tag fand Faith einen Zettel auf dem Vordersitz ihres Wagens. Sie hob das gefaltete Papier auf, neugierig, was sie dort liegengelassen haben könnte. Dann las sie in Blockschrift: STELL KEINERLEI FRAGEN MEHR NACH GUY ROUILLARD. HALT DEN MUND, WENN DU WEISST, WAS GUT FÜR DICH IST. Sie lehnte sich gegen das Auto, und der Wind ließ das Papier in ihrer Hand flattern. Da sie ihr Auto vor der Tür nicht abschloß, war es klar, wie der Zettel dorthin gekommen war. Sie starrte ihn an und grübelte darüber nach, ob man ihr tatsachlich drohte oder ob es einfach nur eine Phrase war. Halt den Mund, wenn du weißt, was gut für dich ist. Mit kleinen Abwandlungen hatte sie das schon hundertmal irgendwo gehört. Der Zettel mochte eine Drohung sein, wahrscheinlich aber war er nur eine Warnung. Irgend jemandem mißfiel, daß sie über Guy Rouillard Fragen stellte.

Gray hatte den Zettel nicht geschrieben. Es entsprach einfach nicht seinem Stil, denn er formulierte seine Drohungen höchstpersönlich und äußerst präzise. Seine letzte Drohung war ihr noch gut in Erinnerung. Wer aber konnte sich sonst noch durch ihre Fragen gestört fühlen? Es gab zwei Möglichkeiten: jemand, der etwas zu verbergen hatte; oder jemand, der sich bei Gray anbiedern wollte.

Sie hatte sich gerade auf den Weg in die Stadt machen wollen, um noch weitere Nachforschungen anzustellen. Diesmal hatte sie ein Gespräch mit Yolanda Foster angepeilt. Es lag also eine gewisse Ironie darin, daß der Zettel ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt aufgetaucht war. Nachdem sie kurz nachgedacht hatte, wie ernst sie die Warnung nehmen sollte, entschied sie sich, dennoch zu fahren. Wenn es dem Urheber des Zettels wirklich ernst mit seiner Drohung war, dann würde er sich etwas präziser ausdrücken müssen.

Zunächst aber ging sie mit dem Zettel ins Haus und verschloß ihn in ihrem Schreibtisch. Dabei berührte sie nur so viel von dem Stück Papier, wie unbedingt nötig. Bisher hatte die Sache noch nicht die Ausmaße, daß man die Polizei verständigen müßte. Aber sollte sie noch eine derartige Warnung bekom men, wollte sie beide als Beweismittel vorlegen können. Auf den Sheriff war sie ohnehin nicht besonders erpicht. Sie erinnerte sich noch an ihn, wie er mit fleischigen, verschränkten Armen seinen Untergebenen dabei zusah, wie sie die Baracke der Devlins ausräumten. Sheriff Deese war ganz und gar auf Grays Seite gewesen. Es stellte sich also die Frage, ob er gegen eine an sie gerichtete Morddrohung überhaupt etwas unternehmen würde.

Nachdem sie den Zettel gut weggeschlossen hatte, fuhr sie in die Stadt. Sie hatte ihre Vorgehensweise gestern nacht ausgearbeitet, als sie schlaflos im Bett gelegen hatte. Sie würde Mrs. Foster nicht vorher telefonisch benachrichtigen, damit diese gar nicht erst einer persönlichen Begegnung aus dem Weg gehen konnte. Ein überraschender Besuch von Angesicht zu Angesicht war viel besser. Dann konnte sie ihre Fragen stellen, noch ehe sich Yolanda von dem Schrecken erholt hatte.

Sie kannte die Privatadresse der Fosters nicht, und die im Telefonbuch angegebene Anschrift war ihr nicht geläufig. Ihr erstes Ziel war deshalb die Stadtbibliothek. Zu ihrer Enttäuschung saß nicht die leutselige Carlene DuBois hinter der Theke. Statt dessen hockte dort eine kühle kleine Blondine, die wohl frisch von der Schulbank kam. Sie kaute Kaugummi und blätterte ein Musikmagazin durch. Was war nur aus dem Stereotyp der Bibliothekarin mit strengem Haarknoten geworden, die auf ihrer schmalen Nase eine Lesebrille trug? Der kaugummikauende Rockfan jedenfalls war keine Verbesserung.

Faith schätzte die kleine Bibliothekarin auf kaum vier oder fünf Jahre jünger als sich selbst. Dennoch gehörte sie seelisch und emotional einer anderen Generation an. Sie selbst war niemals so jung gewesen, wie das Mädchen es immer noch war, doch das empfand sie eigentlich nicht als Nachteil. Sie hatte schon in jungen Jahren Verantwortung tragen müssen. Sie erinnerte sich daran, wie sie schon am Herd stand, als die eiserne Bratpfanne noch viel zu schwer für sie war, und sie auf einen Stuhl klettern mußte, um die Bohnen umzurühren. Sie hatte mit einem Besen gefegt, der fast doppelt so groß gewesen war wie sie selbst. Und sie hatte auf Scottie aufpassen müssen, was von all ihren Aufgaben die meiste Verantwortung forderte. Nach dem Schulabschluß war sie auf das Leben vorbereitet gewesen, anders als die Kinder, die sich niemals um etwas hatten kümmern müssen und sich folglich überhaupt nicht zurechtfanden. Diese 'Kinder' rannten auch mit fünfundzwanzig Jahren immer noch zu ihren Eltern.

Das Mädchen schaute von ihrer Zeitschrift auf und verzog ihre grellpinken Lippen zu einem routinierten Lächeln. Ihre Augen waren so stark umrandet, daß sie wie Mandeln aussahen, die in eine Kohlegrube gefallen waren. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Dem Tonfall nach war sie immerhin kompetent, dachte Faith erleichtert. Vielleicht hatte das Mädchen ja gerade eine ihrer intensiven Schminkphasen. »Haben Sie eine Karte von der Stadt oder der ganzen Gemeinde?«

»Natürlich.« Sie führte Faith zu einem Tisch, auf dem ein großer Globus stand. »Hier sind alle Atlanten und Pläne. Sie werden jährlich auf den neusten Stand gebracht. Wenn Sie also eine ältere Karte benötigen, müssen Sie das Archiv benutzen.«

»Nein, ich brauche nur die aktuelle Karte.«

»Bitte sehr.« Das Mädchen zog einen unglaublich dicken Wälzer hervor, den sie jedoch mit Leichtigkeit handhabte. »Wir müssen die Karten in Plastik verschweißen und dann in dieses Buch heften«, erklärte sie. »Sonst werden sie gestohlen.«

Faith lächelte, als das Mädchen sich wieder abwandte. Diese Verfahrensweise leuchtete ihr ein. Eine Karte zusammenzufalten und damit den Raum zu verlassen war eine Sache, aber ein riesiges plastikverschweißtes Ding hinauszuschmuggeln eine ganz andere.

Sie wußte nicht, ob die Fosters in der Stadt oder etwas außerhalb wohnten. Zunächst schaute sie also auf den Stadtplan und fuhr mit dem Finger das Straßenverzeichnis ab. Richtig! Sie merkte sich die Koordinaten und fand schnell Meadowlark Drive, eine Siedlung, die es zu ihrer Zeit noch nicht gegeben hatte. Sie merkte sich den Weg, legte die Karte zurück und verließ die Bibliothek. Die junge Frau war wieder so in ihre Zeitschrift vertieft, daß sie noch nicht einmal aufsah, als Faith an ihr vorüberging.

Da Prescott nicht groß war, erreichte Faith ihr Ziel in weniger als fünf Minuten. Der neue Stadtteil war großzügig angelegt, es standen dort also weniger Häuser auf größeren Grundstücken. Es gab vermutlich nicht viele Menschen in Prescott, die sich hier ein Haus leisten konnten, denn sie sahen alle sehr teuer aus. Im Nordosten oder an der Westküste wären sie locker eine Million Dollar wert gewesen.

Das Haus der Fosters sah aus wie eine Mittelmeervilla und lag inmitten von großen Eichen, von denen langes Moos herabhing. Faith parkte in der Einfahrt und lief den klinkergefließten Weg bis zum doppeltürigen Eingang hinauf. Die Klingel war von Ranken verdeckt, aber dezent beleuchtet, so daß man sie finden konnte. Sie drückte darauf und hörte das Echo des Gongs durch das Haus schallen.

Einen Augenblick später ertönte das eilige Klappern von Absätzen auf den Fußbodenfliesen, dann wurde die Tür geöffnet. Eine sehr hübsche Frau in mittleren Jahren stand in engen schilfgrünen Hosen und einer weißen Tunika im Türrahmen. Ihre kurzen aschblonden Locken waren zu einer Seite gekämmt, und sie trug breite goldene Kreolen. Überraschung blitzte in ihren dunkelblauen Augen auf.

»Guten Tag, mein Name ist Faith Hardy«, sagte Faith schnell, um dem schrecklichen Mißverständnis vorzubeugen, sie sei Renee. »Sind Sie Mrs. Foster?«

Yolanda Foster nickte, offensichtlich war sie sprachlos. Sie starrte sie an.

»Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, wenn es sich einrichten läßt.« Um die Antwort für sie positiv zu gestalten, trat Faith einen Schritt vor. Yolanda trat zurück und ließ sie zögernd ins Haus.

»Viel Zeit habe ich nicht«, bemerkte Yolanda eher entschuldigend als ungeduldig. »Ich bin zum Mittagessen verabredet.«

Das war, ihrem Aufzug nach zu urteilen, sogar wahrscheinlich, es sei denn, Yolanda zog sich zu Hause immer wie zu einer Modenschau an.

»Nur zehn Minuten«, versprach Faith.

Unentschlossen führte Yolanda Faith in das weitläufige Wohnzimmer, wo sie sich setzten. »Ich möchte Sie nicht so anstarren, aber Sie sind doch Renee Devlins Tochter, nicht wahr? Ich habe schon gehört, daß Sie in der Stadt sind. Die Ähnlichkeit ist wirklich ... nun, wie verblüffend sie ist, hat man Ihnen sicherlich schon oft gesagt.«

Anders als bei den anderen war keinerlei Abfälligkeit aus Yolandas Tonfall herauszuhören. Überraschenderweise mochte Faith die Frau. »Der eine oder andere hat schon so etwas angedeutet«, erwiderte sie trocken. Yolanda lachte, wodurch sie Faith noch sympathischer wurde. Dennoch verfolgte Faith unbeirrt ihr Ziel. »Ich möchte Ihnen ein paar Fragen über Guy Rouillard stellen, wenn das möglich ist.«

Die mit Rouge getönten Wangen wurden ein wenig blasser. »Über Guy?« Ihre Hände fuhren unschlüssig durch die Luft, dann legte sie sie in ihren Schoß. »Warum fragen Sie da mich?«

Faith schwieg. »Sind Sie allein?« fragte sie schließlich, denn sie wollte die Frau vor anderen nicht in Verlegenheit bringen.

»Ja, Lowell ist diese Woche in New York.«

Das war einerseits vorteilhaft, andererseits aber auch nicht. Denn abhängig von ihrem Gespräch mit Yolanda wollte sie sich eventuell auch noch mit Lowell Foster unterhalten. Sie atmete tief durch und ging die Sache gleich frontal an. »Hatten Sie mit Guy in dem Sommer, in dem er dann verschwunden ist, ein Verhältnis?«

Die dunkelblauen Augen blickten verzweifelt, und Yolanda erblaßte noch mehr. Sie sah Faith starr an, während die Sekunden verstrichen. Faith erwartete ein Abstreiten, statt dessen aber seufzte Yolanda merkwürdig sanft auf. »Wie haben Sie das herausbekommen?«

»Ich habe Fragen gestellt.« Sie sagte ihr nicht, daß es offen, sichtlich ein so weit verbreitetes Gerücht war, daß sogar Ed Morgan davon wußte. Wenn Yolanda glaubte, sie sei diskret gewesen, dann sollte man ihr diesen beruhigenden Glauben lassen.

»Es war das einzige Mal, daß ich Lowell betrogen habe.« Yolanda wandte den Blick ab, während ihre Finger nervös an ihren Hosen herumzupften.

»Das glaube ich Ihnen«, erwiderte Faith, weil Yolanda offenbar Unterstützung nötig hatte. »Was ich über Guy Rouillard gehört habe, muß er ein sehr guter Verführer gewesen sein.«

Unwillkürlich spielte ein sehnsuchtsvolles Lächeln um Yolandas Mundwinkel. »Das stimmt, aber ich kann ihn nicht dafür verantwortlich machen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, mit ihm zu schlafen, lange bevor ich auf ihn zugegangen bin.« Ihre immer noch unruhigen Hände spielten nun mit der Sessellehne. »Ich habe herausbekommen, daß Lowell ein Verhältnis mit seiner Sekretärin hatte, und zwar seit Jahren schon. Ich rastete vollkommen aus. Ich drohte ihm mit allen möglichen Dingen, wenn er nicht augenblicklich mit ihr Schluß machte. Die Scheidung war dabei die einzige Drohung, die ihm keinerlei körperliche Schäden zugefügt hätte. Er flehte mich an, ihn nicht zu verlassen. Seine Geliebte würde ihm überhaupt gar nichts bedeuten, es sei nur Sex, er würde es nie wieder tun – nun ja, das Übliche halt. Aber keine drei Wochen später ertappte ich ihn. Als er sich eines Abends auszog, hatte er seine Unterhose falsch herum an, so daß das Etikett zu sehen war. Die einzige Erklärung dafür war, daß er sie zwischenzeitlich ausgezogen hatte.«

Sie schüttelte den Kopf, so als ob sie nicht verstehen konnte, warum er nicht achtsamer gewesen war. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, als ob sie sie zwölf Jahre in sich aufgestaut hätte. »Ich habe kein Wort darüber verloren. Aber am nächsten Tag habe ich Guy angerufen und mich mit ihm in seinem Sommerhaus am See verabredet. Lowell und ich und ein paar andere Freunde waren schon zum Grillen dagewesen. Ich wußte also, wo es war.«

Schon wieder das Sommerhaus! Vater und Sohn hatten die Betten in jenem Haus wirklich immer warm gehalten. »Warum haben Sie Guy für Ihre Rache ausgewählt?« fragte Faith.

Yolanda sah sie überrascht an. »Nun, ich hätte mir wohl kaum einen unattraktiven Mann ausgesucht, oder?« fragte sie vernünftig. »Wenn ich schon eine Affäre hatte, dann sollte sie mit jemandem sein, der wußte, was er tat. Guys Ruf zufolge war er genau der Richtige. Außerdem war Guy kein Risiko für mich. Ich wollte Lowell hinterher erzählen, was ich getan hatte. Denn wenn ich es ihm nicht hätte sagen wollen, wäre es auch keine richtige Rache gewesen. Dank Guys Einfluß würde ihm Lowell nichts antun, wenn er herausfand, mit wem ich ihn betrogen hatte. Denn das wollte ich so lange wie möglich geheimhalten.

Also habe ich Guy im Sommerhaus getroffen und ihm gesagt, was ich vorhatte. Er war sehr nett und sehr vernünftig. Er versuchte, es mir auszureden, falls Sie sich das vorstellen können! Sprach davon, wie sehr Lowell mich wohl verletzt haben müsse.« Yolanda lächelte. Ihre Augen wurden feucht, als sie Faith anblickte. »Da war nun ein Mann, der im ganzen Umkreis Affären hatte, aber mich lehnte er ab. Ich hatte mich selbst immer als anziehend eingeschätzt, er tat das aber offenbar nicht. Fast hätte ich geweint. Als mir tatsächlich eine Träne herunterlief, wurde Guy ganz verrückt. Er war so süß, einfach wunderbar. Tränen konnte er einfach nicht widerstehen. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte mir, wie hübsch ich sei und daß er wirklich gerne mit mir schlafen würde. Aber ich hätte einfach die falschen Beweggründe, und Lowell sei sein Freund und so weiter.«

»Aber Sie haben ihn dann doch überzeugt?«

»Ich habe ihm dann gesagt, wenn nicht du, dann eben ein anderer. Er hat mich nur angeschaut, aus diesen dunklen Augen, die immer so aussahen, als ob man sich in ihnen ertränken könnte. Ich wußte, daß er darüber nachgrübelte, wer wohl dieser andere sein würde. Er machte sich Sorgen um mich, dachte wahrscheinlich, daß ich mir irgendeinen Tölpel suchen würde. Dann nahm er meine Hand, legte sie auf seinen Schritt und meinte, in diesem Fall solle ich doch lieber mit ihm vorlieb nehmen. Dann führte er mich ins Schlafzimmer.« Sie zitterte ein wenig, ihr Blick ganz in der Erinnerung versunken. Sie schwieg. Faith wartete geduldig, bis sie mit ihrem Rückblick abgeschlossen hatte.

Mit weicher Stimme sagte Yolanda schließlich: »Können Sie sich vorstellen, wie das ist: den eigenen Mann zu lieben und im Bett vollkommen zufrieden zu sein – und dann herauszufinden, daß man von Leidenschaft nicht die geringste Ahnung gehabt hat? Guy war ... Himmel, ich kann Ihnen nicht sagen, wie Guy als Liebhaber war. Ich habe vor Lust geschrien, er hat mich Dinge fühlen und tun lassen, die ich nicht ... ich wollte eigentlich nur ein einziges Mal mit ihm schlafen. Aber dann sind wir den ganzen Nachmittag dort geblieben und haben uns geliebt.

Lowell habe ich nichts davon erzählt, denn dann hätte ich meine Rache beenden müssen. Und das konnte ich nicht. Ich konnte nicht aufhören, mich mit Guy zu treffen. Wir haben uns mindestens einmal in der Woche gesehen, wenn es sich irgendwie einrichten ließ. Dann verschwand er.« Sie blickte zu Faith auf, als ob sie die Wirkung ihrer nun folgenden Worte beobachten wollte. »Mit Ihrer Mutter. Als ich das hörte, habe ich eine ganze Woche lang geweint. Danach habe ich Lowell davon erzählt.«

»Natürlich war er fuchsteufelswild. Er hat herumgebrüllt und mir mit der Scheidung gedroht. Ich saß nur da und habe ihn beobachtet, habe aber nichts gesagt. Das hat ihn natürlich nur noch wütender gemacht. Dann habe ich gesagt: »Du solltest immer darauf achten, daß du hinterher deine Unterhose richtig herum wieder anziehst.« Mit offenem Mund starrte er mich an. Jetzt wußte er, daß ich ihm auf die Schliche gekommen war. Ich bin aufgestanden und habe das Zimmer verlassen. Etwa eine halbe Stunde später folgte er mir weinend. Wir haben uns dann versöhnt«, sagte sie schnell. »Soweit ich weiß, war er mir nie wieder untreu.«

»Haben Sie jemals wieder von Guy gehört?«

Yolanda schüttelte langsam den Kopf. »Anfangs hatte ich darauf gehofft, aber nein, er hat weder geschrieben noch angerufen.« Ihre Lippen zitterten, als sie Faith verzweifelt anblickte. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Ich habe ihn so sehr geliebt.«

Wieder eine Sackgasse, dachte Faith auf der Fahrt nach Hause. Yolanda zufolge hatte ihr Mann erst von ihrer Affäre mit Guy erfahren, als der bereits verschwunden war. Lowell kam also nicht in Frage. Yolanda war viel zu offen gewesen, hatte offensichtlich nicht im entferntesten daran gedacht, daß Guy ermordet worden sein konnte. Es war auch keine Frage für sie gewesen, ob sie sich Faith gegenüber offenbaren sollte. Statt dessen hatte sie sich an Faiths Händen festgeklammert und den Mann beweint, den sie vor zwölf Jahren zum letzten Mal gesehen und mit dem sie einen leidenschaftlichen Sommer verbracht hatte.

Schließlich hatte sich Yolanda wieder gefangen und war peinlich berührt gewesen. »Himmel, die Zeit. Ich werde mich verspäten. Und es ist mir ja so unangenehm, daß ich einer Fremden gegenüber ...« Erst jetzt war ihr klar geworden, was sie alles erzählt hatte. Sie hatte Faith starr vor Entsetzen angeblickt.

Faith spürte, daß sie Yolanda trösten mußte. Sie berührte ihre Schulter und sagte: »Sie mußten sich einmal aussprechen. Ich verstehe das. Und ich verspreche Ihnen, daß ich darüber stillschweigen werde.«

Nach einem kurzen, angespannten Moment sagte Yolanda: »Ich vertraue Ihnen. Ich weiß nicht warum, aber es ist so.«

Jetzt hatte Faith also keinerlei Verdächtige oder Hinweise mehr. Nicht daß da jemals irgendein konkreter Anhaltspunkt gewesen wäre. Was sie hatte, waren Fragen. Und irgend jemanden störten diese Fragen. Der Beweis dafür war der Zettel, den sie am Morgen gefunden hatte. Ob der nun der Beweis für ein schlechtes Gewissen war oder nicht, konnte sie nicht sagen. Auch wußte sie nicht zu sagen, was sie, außer weiter Fragen zu stellen, noch tun konnte. Früher oder später würde jemand reagieren.

Wenn sie sich auf diese Weise beschäftigt hielt, würde sie vielleicht nicht an Gray denken.

Die Theorie ließ sich jedoch nur schwerlich in die Praxis übertragen. Sie hatte seit dem letzten Nachmittag ganz bewußt vermieden, weiter über ihn nachzudenken. Die Signale ihres unruhigen Körpers hatte sie mißachtet und nicht mehr an das gedacht, was zwischen ihnen vorgefallen war. Aber trotz ihrer Willenskraft strafte sie ihr Unterbewußtes Lügen. Denn er war in ihren Träumen aufgetaucht, und als sie frühmorgens aufgewacht war, hatte sie sich nach ihm ausgestreckt. Der Traum war so realistisch gewesen, daß sie vor enttäuschter Sehnsucht geschrien hatte.

Sie hatte ihm keinerlei Widerstand mehr zu bieten, das mußte sie nun einfach zugeben. Wenn er nicht diese verhängnisvollen Worte gesprochen hätte, dann hätte sie sich ihm auf der Wiese hingegeben. Ihre moralischen Ansprüche lösten sich in Luft auf, wenn er sie in seine Arme nahm. Es waren nur noch Papiertiger, die er mit seinem ersten Kuß bereits besiegte.

Während sie mehr und mehr Personen von ihrer Liste der Verdächtigen strich, verlagerte sich der Verdacht immer weiter auf Gray. Vernünftig betrachtet war es durchaus möglich, daß er seinen Vater beiseite geschafft hatte. Aber von ihrem Gefühl her konnte sie den Gedanken überhaupt nicht akzeptieren. Nicht Gray. Nicht Gray! Sie konnte es einfach nicht glauben, und sie wollte es auch nicht glauben. Sie kannte ihn zwar als Mann, der vor nichts zurückscheute, um die ihm liebsten Menschen zu beschützen. Aber einen kaltblütigen Mord traute sie ihm nicht zu.

Ihre Mutter wußte, wer der Mörder war. Davon war Faith felsenfest überzeugt. Ehe ihre Mutter das jedoch zugäbe, wären noch einige Anstrengungen vonnöten, denn ein solches Eingeständnis würde sie selbst in Schwierigkeiten bringen. Renee würde nicht gegen ihre eigenen Interessen handeln, jedenfalls nicht für so etwas Abstraktes wie die Gerechtigkeit. Faith kannte ihre Mutter gut. Wenn sie sie zu sehr bedrängte, dann würde Renee, teils aus Angst, aber hauptsächlich, um eventuellen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, einfach weglaufen. Nachdem sie die Information mit dem Sommerhaus aus ihr herausgekitzelt hatte, mußte sie mit ihrem nächsten Anruf noch etwas warten.

Der Karton wurde am nächsten Tag abgeliefert.

Sie war gerade von einer Einkaufstour in der benachbarten Gemeinde zurückgekehrt, hatte die Lebensmittel ins Haus getragen und sie verstaut. Dann ging sie zum Briefkasten, um die Post zu holen. Als sie den Deckel des großen Kastens öffnete, fand sie die gewohnten Rechnungen, Zeitschriften und Reklamesendungen vor. Obenauf stand ein Karton. Sie zog ihn neugierig heraus, denn sie hatte nichts bestellt. Aber das Gewicht des Kastens machte sie neugierig. Es war mit breitem Paketband verklebt, und ihr Name und ihre Adresse waren daraufgeschrieben.

Sie trug alles ins Haus und stellte es auf den Küchentisch. Sie holte ein Messer aus der Schublade, schnitt das Band auf, öffnete den Karton und schlug das Packpapier beiseite.

Entsetzt starrte sie darauf und übergab sich voller Ekel in das Abwaschbecken.

Die Katze war nicht nur tot, sie war zusätzlich verstümmelt worden. Sie war in Plastik eingewickelt, vermutlich damit der Geruch niemanden auf das Paket aufmerksam machte, bevor es geöffnet wurde.

Faith reagierte instinktiv. Als das Würgen nachließ, griff sie blind nach dem Telefonhörer.

Sie schloß die Augen, als sie die tiefe, rauchige Stimme an ihrem Ohr hörte. Sie klammerte sich an den Telefonhörer wie an einen Rettungsanker. »G-Gray«, stammelte sie. Dann sagte sie nichts mehr, denn ihr Kopf war vollkommen leer. Was sollte sie ihm sagen? Hilfe, ich habe Angst, ich brauche dich? Sie hatte keinerlei Anspruch auf ihn. Ihr Verhältnis beruhte auf einer explosiven Mischung aus Feindschaft und Verlangen. Jede Schwäche ihrerseits würde ihm nur weitere Munition an die Hand geben. Aber es ekelte sie, und sie hatte Angst. Und er war der einzige Mensch, den sie um Hilfe bitten konnte.

»Faith?« Etwas von ihrem Entsetzen mußte in dem einen gesprochenen Wort erkennbar gewesen sein, denn seine Stimme wurde sehr ruhig. »Was ist los?«

Sie wandte sich wieder dem widerlichen Ding auf dem Küchentisch zu, fand ihre Stimme wieder, wenngleich auch nur ein Flüstern zustande kam. »Es ist eine ... eine Katze hier«, brachte sie mühsam hervor.

»Eine Katze? Hast du Angst vor Katzen?«

Sie schüttelte den Kopf, wurde sich aber bewußt, daß er das durch das Telefon hindurch nicht sehen konnte. Ihr Schweigen deutete er als Zustimmung, denn er sagte beruhigend: »Dann wirf etwas nach ihr, sie wird sich verziehen.«

Wieder und diesmal heftiger schüttelte sie ihren Kopf. »Nein.« Sie atmete tief ein. »Hilf mir.«

»Gut.« Er schien zu glauben, daß sie sich vor lauter Angst außerstande sah, mit einer Katze allein fertig zu werden, denn er antwortete beruhigend: »Ich bin gleich da. Setz dich irgendwohin, wo du sie nicht sehen kannst. Ich kümmere mich dann gleich darum.«

Er hängte auf, und Faith folgte seinem Rat. Sie ertrug es nicht, mit dem Ding unter einem Dach zu sein. Also ging sie auf die Veranda und setzte sich stocksteif auf die Gartenschaukel. Dort wartete sie seine Ankunft ab.

Er war in weniger als einer Viertelstunde da, aber diese Minuten schienen ihr wie eine Ewigkeit. Er schälte sich aus seinem Jaguar und kam mit elegantem, lockeren Gang auf die Veranda zu. Er hatte den Anflug eines überheblichen Lächelns auf den Lippen: Der Held war gekommen, um eine hilflose kleine Frau vor einem wilden Biest zu retten. Faith war es vollkommen gleichgültig, was er dachte. Hauptsache, er würde dieses Ding aus ihrer Küche entfernen. Sie starrte ihn mit so blutleerem Gesicht an, daß sein Lächeln schwand.

»Du hast ja richtig Angst«, sagte er sanft, ging vor ihr in die Hocke und nahm ihre Hände in seine. Ihre Finger waren trotz des schwülen Wetters eiskalt. »Wo ist sie?«

»In der Küche«, sagte sie schmallippig. »Auf dem Tisch.«

Er klopfte ihr beruhigend auf die Hand, erhob sich und trat durch die Fliegentür. Faith hörte, wie seine Schritte durch das Wohnzimmer hindurch auf die Küche zugingen.

»Welches verdammte Arschloch denkt sich so etwas aus!« Sie hörte den wilden Fluch, weitere folgten. Dann knallte die Hintertür. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie hätte ihn warnen sollen, damit er nicht denselben Schock erlitt wie sie, aber ihr waren einfach nicht die richtigen Worte eingefallen.

Ein paar Minuten später kam er um das Haus herum und stieg die Treppen zur Veranda hoch. Er hatte die Lippen aufeinandergepreßt, und seine dunklen Augen waren kälter, als sie sie jemals gesehen hatte. Diesmal jedoch richtete sich seine Wut nicht gegen sie.

»Ist schon gut«, sagte er leise. »Ich habe sie weggetan. Komm mit ins Haus, Liebling.« Er legte seinen Arm um sie, hob sie aus der Schaukel und führte sie in das Haus und dann in die Küche. Sie wollte umkehren, aber er ließ nicht locker. »Es ist schon gut«, versicherte er ihr und drückte sie auf einen Stuhl. »Du siehst aus wie ein Gespenst. Gibt es hier etwas zu trinken?«

»Tee und Orangensaft im Kühlschrank«, erwiderte sie mit schwacher Stimme.

»Ich dachte eher an etwas Alkoholisches. Hast du nicht etwas Wein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich trinke keinen Alkohol.«

Trotz der Wut in seinem Blick lächelte er ihr zu.

»Spielverderberin«, sagte er leise. »Also gut, dann eben Orangensaft.« Er holte ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Saft und hielt es ihr hin. »Hier, trink das aus, während ich kurz telefoniere.«

Sie nahm artig einen Schluck, mehr um etwas zu tun zu haben als aus Durst. Gray blätterte im Telefonbuch. Sein Finger fuhr über die allererste Seite, dann wählte er eine Nummer. »Sheriff McFane, bitte.«

Faith hob den Kopf. Plötzlich war sie hellwach. Bei Grays Gesichtsausdruck jedoch wagte sie keinerlei Einspruch. »Mike, hier ist Gray. Könntest du zu Faith Hardys Haus kommen, bitte? Ja richtig, das ehemalige Haus der Cleburnes. Sie hat gerade eine wirklich scheußliche Überraschung in ihrem Briefkasten gefunden. Eine tote Katze ... ja, der ist auch dabei.«

Er legte auf. Faith räusperte sich. »Was ist auch dabei?«

»Ein Drohbrief. Hast du ihn nicht gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe nur die Katze gesehen.« Ein Zittern fuhr ihr durch den Körper, und das Glas bebte in ihrer Hand.

Er fing an, die Schränke zu öffnen und zu schließen. »Wonach suchst du?« fragte sie.

»Nach Kaffee. Gegen den Schock erst einmal Zucker, danach brauchst du Koffein.«

»Ich bewahre ihn ihm Kühlschrank auf. Oberstes Regal.«

Er holte die Dose heraus, und sie zeigte auf die Filtertüten. Den Kaffee bereitete er gut zu, besonders für jemanden, der so etwas vermutlich zu Hause nie tun mußte. Unter anderen Umständen hätte sie dieser Gedanke belustigt.

Als der Kaffee aufgesetzt war, zog er einen Stuhl heran und setzte sich ihr so nah gegenüber, daß sie sich berührten. Er umklammerte ihre Schenkel mit seinen warmen Beinen. Er fragte sie nicht danach, was geschehen war, denn das würde der Sheriff gleich tun. Sie war ihm dankbar für sein Taktgefühl. Er saß lediglich bei ihr, seine beruhigende Gegenwart wärmte sie. Seine dunklen Augen musterten ihr Gesicht, als ob er überlegen würde, ihr den Orangensaft selbst einzuflößen, wenn sie ihn nicht so schnell trank, wie er es für richtig hielt.

Um das zu vermeiden, nahm sie einen weiteren großen Schluck und beobachtete tatsächlich, wie sein Gesicht sich ein wenig entspannte. »Wage es bloß nicht«, murmelte sie. »Ich versuche mit aller Kraft, mich nicht noch einmal zu übergeben.«

Sein ernstes Gesicht leuchtete kurz amüsiert auf. »Woher weißt du denn, woran ich gedacht habe?«

»So wie du erst das Glas und dann mich angesehen hast.« Sie trank noch einmal. »Ich dachte immer, Deese sei der Sheriff hier.«

»Er ist jetzt im Ruhestand.« Gray dachte flüchtig daran, daß ihre Erinnerung an Sheriff Deese keine angenehme sein konnte. Er fragte sich, ob das der Grund war, weswegen sie ihn so entsetzt angesehen hatte, als er die Polizei rief. »Michael McFane wird dir gefallen. Wenn das kein irischer Name ist! Er ist noch ziemlich jung für den Posten und immer daran interessiert, Neues hinzuzulernen.« Auch Mike war in jener Nacht bei der Baracke gewesen, erinnerte sich Gray. Aber Faith würde sich vermutlich nicht an ihn erinnern. In ihrem Schock hatte sie die herumstehenden Polizisten sicher nur schemenhaft wahrgenommen. Nur er und der Sheriff waren ihr in Erinnerung geblieben, da sie etwas abseits gestanden hatten.

Ein unerklärlicher Widerspruch wurde ihm jetzt bewußt: Sheriff Deese hatte sie nicht wiedersehen wollen, aber ihm gegenüber hatte sie niemals einen solchen Widerwillen gezeigt. Sie war geradeheraus, provozierend und für ihn frustrierend gewesen, aber sie hatte niemals auch nur die geringste Scheu in seiner Gegenwart gezeigt.

Auch für ihn hatte es keinerlei Zurückhaltung gegeben. Warum sonst war er sofort nach ihrem Anruf wegen einer aufdringlichen Katze auf dem Grundstück in sein Auto gestiegen und hatte einen Geschäftstermin abgesagt und war so schnell wie möglich hierhergefahren, während noch immer Monicas Protestrufe in seinem Ohr klangen? Faith hatte ihn um Hilfe gebeten. Und ganz gleich, wie nichtig die Ursache auch sein mochte, er würde ihr helfen, wenn es ihm möglich war. Wie es sich dann herausgestellt hatte, war das Problem alles andere als nichtig gewesen, und seine Beschützergefühle waren entflammt. Er wollte herausfinden, wer etwas so Ekelerregendes getan hatte, und demjenigen würde einiges blühen. Seine Fäuste juckten geradezu vor Verlangen, sie dem Schuldigen ins Gesicht zu schlagen.

»Warum hast du nicht geglaubt, daß ich es gewesen bin?« fragte er leise, während sein Blick sich auf ihr Gesicht heftete, damit ihm keine noch so geringe Gefühlsregung entging. »Ich habe doch versucht, dich hier aus der Stadt zu bekommen. Die logische Schlußfolgerung wäre gewesen, mich als ersten zu verdächtigen.«

Sie schüttelte bereits den Kopf, bevor er noch ganz zu Ende gesprochen hatte. Bei der Bewegung wirbelten ihr ihre Haare ins Gesicht. »So etwas würdest du nicht tun«, erwiderte sie voller Überzeugung. »Genausowenig wie du mir die erste Drohung hinterlassen hast.«

Er unterbrach sich, so sehr war er von ihrem Vertrauen eingenommen.

»Erste Drohung?« fragte er dann streng.

»Ja, gestern. Als ich aus dem Haus ging, lag auf meinem Autositz ein Drohbrief.«

»Hast du es der Polizei gemeldet?«

Wieder schüttelte sie den Kopf. »Es war keine sehr deutliche Drohung.«

»Was stand denn drin?«

Sie blickte ihn ein wenig unsicher an, und er fragte sich warum. »Ich zitiere: 'Halt den Mund, wenn du weißt, was gut für dich ist.'«

Der Kaffee war durchgelaufen. Er stand auf und goß ihnen jeweils eine Tasse ein. »Wie trinkst du ihn?« fragte er abwesend, mit dem Gedanken immer noch bei dem Drohbrief und dem Paket, das diesmal von einer etwas deutlicheren Notiz begleitet gewesen war. Kalte, schwarze Wut stieg in ihm auf, und er konnte sie kaum im Zaum halten.

»Schwarz.«

Er reichte ihr ihre Tasse und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck besser als manch anderer einschätzen, und irgend etwas mußte sie gewarnt haben, denn sie fing mit einem ihrer Ablenkungsmanöver an. »Früher habe ich meinen Kaffee mit viel Zucker getrunken, aber Mr. Gresham ist Diabetiker. Er meinte, es sei viel leichter, alles Süße aufzugeben als mit Süßstoff zu süßen. Deshalb war nichts zum Süßen im Haus. Sie hätten sicher Zucker für mich gekauft, wenn ich danach gefragt hätte, aber ich wollte nicht unbescheiden sein ...«

Wenn sie ihn wirklich hatte ablenken wollen, dachte er irritiert, dann war ihr das gelungen. Denn obwohl er ihre Taktik durchschaut hatte, war sie dennoch effektiv, weil sie einen so interessanten Köder benutzte. »Wer ist denn Mr. Gresham?« unterbrach er ihren Wortschwall. Er spürte ein wenig Eifersucht, vielleicht war er ja ihr Lebensgefährte gewesen, bevor sie nach Prescott gezogen war.

Sie sah ihn aus ihren grünen Augen an. »Die Greshams waren meine Pflegeeltern.«

Pflegeeltern. Sein Magen zog sich eiskalt zusammen. Er hatte immer geglaubt, daß ihr Leben mehr oder weniger so weitergegangen war wie zuvor. Von außen betrachtet waren gute Pflegeeltern natürlich ihrem ehemaligen Leben vorzuziehen, aber es war für Kinder immer schwer, die Eltern zu verlieren. Gute Pflegeeltern zu finden war wie ein Lottogewinn. Viele Kinder wurden von ihren Pflegeeltern mißbraucht. Und ein junges Mädchen mit Faiths Äußerem ..

Der knirschende Kies kündigte Mikes Ankunft an. »Bleib hier«, knurrte Gray und ging zur Hintertür hinaus. Er winkte Mike zu, während dieser mühsam seinen langen Körper aus dem Polizeiwagen schälte und dann hinter das Haus ging, wo Gray das Paket abgestellt hatte.

Als Mike auf den Tierleichnam hinabblickte, zuckten seine Gesichtsmuskeln angeekelt. »Ich habe weiß Gott schon viel gesehen in meiner Laufbahn«, sagte er, während er sich neben das Paket kniete. »Aber bei manchem Anblick wird mir auch heute noch schlecht. Aus welchem Grund sollte jemand dies einem hilflosen Tier antun? Hast du das Paket angefaßt?«

»Nur um es hier herauszutragen. Ich habe darauf geachtet, nur die vordere linke Ecke anzufassen, und hinten rechts. Ich weiß nicht, wie oft es Faith angefaßt hat, bevor sie es geöffnet hat. Ich habe mit einem Stift die Klappen etwas weiter aufgebogen«, fuhr er fort. »Unter einer liegt ein Zettel.«

Mike hing derselben Verfahrensweise an und zückte einen Kuli. Seine Lippen kräuselten sich, während er den in Blockbuchstaben mit schwarzem Filzstift auf eine Pappe geschriebenen Drohbrief las: VERSCHWINDE AUS PRESCOTT ODER DU WIRST GENAUSO AUSSEHEN WIE DIESE KATZE.

»Ich werde es mitnehmen, um eventuelle Fingerabdrücke zu finden.« Er blickte Richtung Haus. »Alles in Ordnung mit ihr?«

»Sie war ziemlich durcheinander, als ich hier ankam. Aber jetzt geht es wohl.«

»Gut.« Michael schloß den Karton mit dem Kugelschreiber, starrte ihn einen Moment lang an und seufzte.

Gray blickte nun ebenfalls hinunter. Jetzt fiel ihm auf, was er bisher übersehen hatte. »Verdammt. Keine Briefmarke. Es lag auf ihrer anderen Post. Ich dachte, es sei ebenfalls per Post gekommen.«

»Nein. Jemand hat es persönlich zugestellt. Laß uns ins Haus gehen und sie fragen, ob sie irgend etwas gehört oder ein Auto bemerkt hat.«

Sie betraten die Küche. Faith saß immer noch dort, wo Gray sie zurückgelassen hatte, und nippte an ihrem Kaffee. Sie blickte auf. Äußerlich schien sie ganz ruhig, aber Gray vermutete, daß ihre Selbstbeherrschung an einem sehr dünnen Faden hing.

Sie stand sofort auf und blickte Mike an.

»Guten Tag.« Er berührte mit der Hand die Krempe seines Hutes. »Ich bin Michael McFane, der Sheriff hier. Würden Sie mir ein paar Fragen beantworten?«

»Selbstverständlich«, erwiderte sie. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

»Gern.«

»Zucker und Milch?«

»Zucker.«

Nachdem sie ihn höflich bewirtet hatte, setzte sie sich auf ihren Stuhl. Gray stand neben ihr und stützte sich auf den großen Tisch. Mike lehnte sich gegen das Waschbecken und kreuzte die Füße.

»Wo haben Sie das Paket gefunden?« fragte Mike.

»Im Briefkasten.«

»Es sind keine Briefmarken drauf. Es ist also nicht mit der Post gekommen. Ich nehme an, daß es jemand nach dem Postboten dort hineingelegt hat. Außer der Post darf niemand den Briefkasten nutzen, der Briefträger hätte es also herausgenommen. Haben Sie den Postboten oder irgendein anderes Auto gehört?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich war nicht hier. Ich war einkaufen. Ich bin nach Hause gekommen, habe die Lebensmittel ins Haus getragen und bin dann zum Briefkasten gegangen.«

»Ist irgend jemand Ihnen gram? Vielleicht jemand, der Ihnen eine tote Katze abliefert, um wieder quitt zu sein?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Gestern hat sie einen Drohbrief in ihrem Auto gefunden«, warf Gray ein.

»Was für einen Drohbrief? Was stand darin?«

»Meinen Mund zu halten, wenn ich wüßte, was gut für mich wäre«, erwiderte Faith.

»Haben Sie ihn aufgehoben?«

Sie seufzte, sah Gray ermattet an und stand auf, um zu ihrem Schreibtisch zu gehen. Sie kam mit dem Brief zurück, den sie nur an einer Ecke anfaßte. »Legen Sie ihn auf den Tisch, ich möchte ihn nicht berühren«, sagte Mike.

Sie gehorchte. Gray stellte sich neben Mike, um den Brief zu lesen. Er war mit denselben Druckbuchstaben geschrieben, die auch den Karton zierten. STELL KEINERLEI FRAGEN MEHR NACH GUY ROUILLARD. HALT DEN MUND, WENN DU WEISST, WAS GUT FÜR DICH IST. Gray blickte irritiert zu ihr hinüber. Jetzt verstand er ihren Blick von vorhin.

»Was hast du denn jetzt wieder angestellt?« knurrte er.

»Da bin ich ebenso ratlos wie du«, erwiderte sie mit einer Glätte, die genausoviel zu enthüllen wie zu verbergen schien.

»Hmm«, sagte Mike und kratzte sich am Kinn. »Was hat denn dein Vater damit zu tun, Gray?«

»Unser Fräulein Neugierig hat überall in der Stadt Fragen über ihn gestellt.« Er blickte sie grimmig an.

»Aber warum sollte das jemanden so sehr stören, daß er Drohbriefe schickt und eine tote Katze in ihrem Briefkasten hinterläßt?«

»Mich hat es ganz gewaltig gestört«, gab Gray unumwunden zu. »Ich möchte nicht, daß Monica oder meine Mutter unter all den wieder hochkochenden Gerüchten leiden. Ich habe allerdings keine Ahnung, wen es dermaßen stören könnte, daß er zu solchen Mitteln greift.«

Der Sheriff schwieg. Nachdenklich senkte er seine blauen Augen. »Oberflächlich betrachtet bist du wohl der wahrscheinlichste Täter, Gray«, sagte er schließlich. Faith wollte protestieren, aber er hob abwehrend die Hand. »Das werden auch Sie gewußt haben«, sagte er an sie gerichtet. »Ich frage mich aller dings, warum Sie trotzdem erst ihn und nicht die Polizei gerufen haben.«

»Ich wußte, daß er weder den Brief noch das Paket hierhergebracht hatte.«

»Es ist ja kein Geheimnis, daß du über ihre Rückkehr nach Prescott nicht gerade begeistert warst«, bemerkte Michael und betrachtete Gray.

»Nein, das war ich nicht. Und ich bin immer noch nicht glücklich darüber.« Grays Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Aber Drohbriefe und tote Katzen sind nicht mein Stil. Ich trage meine Auseinandersetzungen offen aus.«

»Verdammt, mir brauchst du das nicht zu erzählen. Ich habe mich nur gefragt, warum Mrs. Hardy dich zu Hilfe gerufen hat.«

Gray knurrte. »Dann find es doch heraus.«

»Das ist mir, glaube ich, schon gelungen.«

»Dann hör mit den Kindereien auf.«

Der Sheriff nahm es ihm nicht übel, sondern grinste lediglich. Einen Augenblick später verhielt er sich wieder ganz geschäftsmäßig. »Ihr müßt beide auf die Wache kommen, damit wir eure Fingerabdrücke nehmen können und dann den Karton auf die absuchen können, die nicht dazu passen. Und wir müssen noch ein Protokoll aufnehmen, Mrs. Hardy.«

»Ja, gut. Ich hole nur schnell meine Schlüssel.« Faith stand auf, aber Gray hielt sie am Arm fest.

»Ich fahre dich.«

»Du mußt doch nicht den ganzen Weg wieder hierher zurück ...«

»Ich habe gesagt, ich fahre dich.« Er blickte mit eiserner Miene auf sie herab und zwang ihr seinen Willen auf. Sie machte einen etwas entnervten Eindruck, widersprach aber nicht weiter. Wieder mußte der Sheriff grinsen.

Gray führte sie hinaus und begleitete sie zu dem luxuriösen Ledersitz des Jaguars. »Du mußt mich nicht fahren«, brummte sie, während sie sich anschnallte.

»Natürlich muß ich das, wenn ich mit dir reden will.«

»Was gibt es denn noch zu reden?«

Er ließ den Motor an, fuhr rückwärts aus der Einfahrt und folgte dem Polizeiwagen. »Anscheinend hat irgendein Verrückter es auf dich abgesehen. Du wärst außerhalb von Prescott um einiges sicherer.«

Sie wandte den Kopf ab und starrte aus dem Fenster. »Bis zu dieser Schlußfolgerung zu kommen hat ja nicht sonderlich lange bei dir gedauert«, entgegnete sie.

»Du starrköpfige kleine Hexe! Kannst du es denn nicht in deinen roten Kopf bekommen, daß du vielleicht wirklich in Gefahr bist?«